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Sprachlabor
Schriftliche Texte in multimedialen Kontexten Teil 3 7. Wie komponiert man Multimedia? 7.1 Gute Schrift-Bild-Ton-Gewebe zu verfassen ist schwer "Von neuartigen Gegenständen versucht das Kind noch keineswegs, das Neue daran zu erfassen, sondern begnügt sich damit, sie seinen gewohnten Verhaltensweisen zu unterwerfen. Nur selten schickt es diesen Versuchen einen kurzen Augenblick des Zögerns voraus." (Piaget 1975a:205) Erwachsene wehren Neues eher ab, oder sie nutzen es auch nur wie Altes. Die Mischung beider Haltungen bringt neue Medien manchmal ins Zwielicht. Multimedia wird für unnützen Schnickschnack gehalten und ist es oft auch. Die neuen Potentiale werden kaum genutzt. Sie stellen ja auch neue Ansprüche an die Zeichennutzer. Vielen macht das Angst. Neue Medien lassen stets fürchten, es gehe bergab mit der Kultur; so ja schon Sokrates mit seiner Abneigung gegen Schrift (Platon 1958:54-57=274b-277a). Es scheint mir konstruktiver, die neuen Möglichkeiten zu reflektieren und auszuloten. Nur bewußter Umgang mit neuer Verantwortung macht souverän. ("Der Intellektuelle ist von Natur aus Melancholiker. Er leidet zunächst an der Welt, er versucht, diesem Leiden denkend Ausdruck zu verleihen und leidet schließlich an sich selbst, weil er nur denken, aber nicht handeln kann."; Lepenies 1992:14) Wir plädieren für einen längeren Augenblick des Zögerns vorm Handeln, das heißt für die Verknüpfung erwachsener Erfahrung mit kindlicher Offenheit. Nicht das neue Medium ist Schnickschnack, sondern die Art seiner Verwendung. Schließlich kommt es darauf an, was man ausdrücken will; dem sollten die Mittel unterworfen werden. Auch mit alten Medien kann man Unsinn treiben, mündlich, schriftlich, gedruckt. Manchmal wird gesagt, daß alte Medien nicht mehr dem gerecht würden, was heute zu sagen ist. So behauptet Bolz (1992:128) in seinem Buch, das "Informationsverarbeitungssystem Buch" sei "der Komplexität unserer sozialen Systeme nicht mehr gewachsen". Derrida (1974:155) meint: "Was es heute zu denken gilt, kann in Form der Zeile oder des Buches nicht niedergeschrieben werden". Wittgenstein etwa hat sich mit den linearen Fesseln schriftlichen Ausdrucks herumgequält; das Vorwort zu seinen "Philosophischen Untersuchungen" legt, wenn man es so liest, beredtes Zeugnis davon ab. Sein Text gibt ein "Bild der Landschaft" (Wittgenstein 1960:286), "gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen" (ebd.285), wobei man in Erinnerung behalten sollte, daß "Bilder" (im Gegensatz zu "Vorstellungen") nicht sprachlich mitteilbar sind; ein "Bild" ist das, was sich zeigt (vgl.ebd.404-421=§300-368). Nicht jeder ist Wittgenstein. Doch grundsätzlich erlauben neue Medien neue geistige Ausdrucksformen, zu denen alte Medien nicht ohne weiteres einluden. "Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertiggegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt." (Cassirer 1953:18) Dieser Gedanke geht auf Humboldt zurück, der ihn auf Sprachen begrenzt und der meint, daß sich "in jeder jede Ideenreihe ausdrücken lässt", daß manche Sprachen kraft ihrer inneren Form aber mehr zu dieser Ideenreihe "einladen und begeistern", andere eher zu jener (Humboldt 1994a:21). Vielleicht gilt das auch für unterschiedliche semiotische Formen und Kanäle, hier insbesondere für rein schriftliche Texte im Vergleich zu multi- und hypermedialen Kontexten. Für multimediale elektronische Zeichengebilde haben wir noch kaum Erfahrung. Vom Produzenten verlangen sie ungewohnte Ausdrucksformen, neue Organisation von Texten und eine bewegliche Grammatik komplexer Zeichen. Dem Leser werden ungewohnte Rezeptionsformen abverlangt; er schwankt zwischen Zappen, Basteln und Entdecken. Das größte Potential und zugleich auch die größte Hürde steckt im schnellen Rollenwechsel zwischen Sender und Empfänger. Das kennen wir aus mündlichen Gesprächen, nicht aber aus schriftlichen oder gar quasi-massenmedialen Umgebungen. Anfangs wird vieles dilettantisch sein. Barock kann schnell auch zu Kitsch verkommen. Reizüberflutung liegt nahe. Souveranität wird nur aus Bildung erwachsen, die bisher fehlt. Wer kann schon Bücher lustvoll lesen?"Sade: die Lust der Lektüre kommt offensichtlich von bestimmten Brüchen (oder bestimmten Kollisionen): antipathische Codes (das Erhabene und das Triviale zum Beispiel) stoßen aufeinander" (Barthes 1974:13) In Multimedia scheint eben das der zur Schau gestellte Normalfall zu sein. Dann aber könnte die Lust schnell fad werden und bloß der Zerstreuung dienen. Kurzum: Gute Multimedia-Angebote zu verfassen ist schwer. Es erfordert mindestens soviel geistige Disziplin wie das Verfertigen linearer Texte. Darüber hinaus setzt es ein Mindestmaß technischer Kenntnisse, ein Gespür für synästhetische Zusammenhänge und intensives Training multimedialer Schreibweisen voraus. Dabei will der Status schriftlicher Texte in multimedialen Kontexten genau bedacht werden. Wir können hier keine Richtlinien oder Empfehlungen geben, sondern an drei vorBILDlichen Beispielen (im Original sämtlich farbig) nur auf ausgewählte Probleme aufmerksam machen. Im ersten Beispiel wird herkömmlicher Text neu gelesen, im zweiten neu verfaßt und im dritten durchs Bild ersetzt. Wir durchlaufen sozusagen einen Weg vom Buch zum Bild: der Text wandert zunehmend ins Bild ein. |
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Mit Computern können intertextuelle und intermediale Zusammenhänge unmittelbarer dargestellt werden als mit herkömmlich geschriebenen oder gedruckten Textsorten. Texte können dabei als Ganze oder in Teilen bewegt, verändert und mit anderen Zeichen (Texten, Bildern, Tönen) verknüpft, das heißt in wechselnde Kontexte gesetzt werden. Gute Hypermedia-Texte sollten so gestaltet sein, daß die technischen Möglichkeiten nicht vom Sinn der Lektüre ablenken. Vielmehr sollten sie die aus herkömmlichen Texten gewohnten Lektüremöglichkeiten ergänzen, wenn nicht gar übersteigen. Der Verfasser sollte also darauf achten, daß seine technische und semiotische Konstruktion den Leser nicht dazu einlädt, die Botschaft nur als beliebig austauschbaren Anlaß für amüsant zerstreuende Spielereien zu verwenden. Die multimediale Technik soll zur Botschaft hin- und nicht von ihr wegführen. Im oben gegebenen Beispiel hat Matthias Berghoff sich bemüht, dieses Ziel zu erreichen. Statt ausgiebiger Kommentare möge sich der Leser selbst der Lektüre-Erfahrung unterziehen (Internet-Adresse http://www.uni-bielefeld.de/~mberghof/jandl/). |
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Dies ist ein Ausschnitt aus einem hypermedialen "Lernpäckchen Semiotik" der Arbeitsgruppe Linse (Internet-Adresse http://www.uni-essen.de/fb3/linse/home.htm). Schritt für Schritt wird das Bühlersche Organon-Modell aufgebaut. Die hypermediale Darstellung lädt den Lerner mit selbsterklärenden grafischen Mitteln dazu ein, Bühlers Gedanken sowohl zu folgen als auch darin hin und herzugehen und sie von verschiedenen Seiten her zu betrachten. In der hier gegebenen Beispielseite hat das drei Konsequenzen für den Text. Erstens gibt es drei Arten von Text. Die einzelnen Wörter oben dienen - ähnlich wie viele grafische Elemente - der Orientierung und Navigation innerhalb des Programmangebots. Der zusammenhängende Satz oberhalb der Mitte enthält die Hauptinformation der Seite (also eines Gedankenschrittes). Die einzelnen Wörter in der unteren Hälfte geben einzelnen Elementen der Grafik ihren Sinn durch Benennung. Zweitens ist jeder Text Bestandteil eines grafisch gestalteten Gesamtbildes, das zunächst flächig und erst in zweiter Linie und dann auch nur teilweise linear wahrgenommen wird. Drittens kann kein Element aus sich selbst heraus verstanden werden, insbesondere auch der Haupt-Lesetext (der zusammenhängende Satz, der klassischerweise im Buch gestanden hätte) nicht. Dieser ist vielmehr doppelt eingehängt, und zwar sowohl in den Textzusammenhang mit der vorhergehenden Bildschirmseite (die durch den blauen Pfeil aufgerufen werden kann) als auch in das zugehörige Schaubild (das seinerseits nach und nach aufgebaut wird). Sprachlich wird die zweifache Bindung durch die doppeldeutige Referenz des Demonstrativpronomens ("diese") bewerkstelligt. In der Buchfassung (Bühler 1934:28) steht der - anders lautende - Text neben dem vollständigen Schaubild (weshalb es bei visueller Lektüre oft falsch verstanden wird). Dort illustriert das komplette Schaubild den Text, oder der Text erklärt das Schaubild. Hier in der Computerdarstellung werden beide parallel und integriert entwickelt. Das Buch legt Fertiges vor; der Leser setzt es durch seine Lektüre in Bewegung. Die hypermediale Fassung baut Gedanken nach und nach auf; der Leser formt aus der Bewegung ein Ganzes. Das Buch zeigt "das wirkliche Ganze", die hypermediale Fassung "es zusammen mit seinem Werden" (Hegel 1970:13). Entsprechend enthält eine Buchseite erheblich mehr Information als eine Bildschirmseite. Die Größe einer nur mit Schrift gefüllten Buchseite ist dem Inhalt gegenüber völlig gleichgültig, weil der Leser einer Linie folgt und das Blättern kaum wahrnimmt. Die Größe einer multimedial gefüllten Bildschirmseite aber begrenzt eine Informationsmenge, weil der Leser sie zuerst als Bildfläche insgesamt und auf einmal wahrnimmt und weil sie zahllose Anschlußstellen zu noch unsichtbaren Botschaften haben kann. Ein fortlaufend geschriebener Text bezieht seine Kohärenz aus dem Sinn, der Inhalt einer Bildschirmseite dagegen zunächst aus der Optik. Im vorliegenden Fall kommt die Buchseite dem sehr erfahrenen Leser mehr entgegen, während die Bildschirmseite dem Lese-Anfänger mehr Hilfen gibt. 7.4 Bild macht Text überflüssig
Hier wurde auf die grafische Gestaltung eines Bildbearbeitungsprogramms (Metatools Goo) so viel Witz verwendet, daß sich eine schriftliche Gebrauchsanweisung (selbst in Gestalt einer Hypertext-Hilfe) erübrigt. Der Text beschränkt sich auf wenige Einzelwörter, die die vorrangigen Bedienungselemente mnemotechnisch unterscheiden und in klaren Kontrast zu den übrigen, in sprechender Grafik dargestellten Programmfunktionen bringen. Das unterläuft die intellektuell distanzierende Funktion der Schrift, lädt zum Ausprobieren ein und unterstützt learning bei doing, dem Zweck völlig angemessen. "Das Privileg des Bildes, darin ist es der Schrift, die linear ist,
entgegengesetzt, ist es, zu keinem Sinn der Lektüre zu verpflichten"
(Barthes 1989:43). Elektronisch bewegliche Text-Bild-Ton-Konglomerate verteilen
die Freiheiten und Pflichten ganz neu. Selten hat es ein Jahrzehnt in der
Mediengeschichte gegeben, in dem so viel Neues ausprobiert werden konnte.
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