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Sprachsignalinvertierung
zur Prüfung der Zeitverarbeitung
1. Anmerkungen zum
Status der Ordnungsschwelle
Die Bestimmung der Ordnungsschwelle wird seit einiger Zeit als diagnostisches
Instrument bei Sprachstörungen eingesetzt, wenn ebenfalls eine Störung
der Zeitverarbeitung zu vermuten ist. Darüber hinaus wurden Trainingsverfahren
zur Herabsetzung der Ordnungsschwelle entwickelt. Diese Verfahren verbinden
sich mit der Erwartung, daß eine Normalisierung der Ordnungsschwelle
eine Minderung der Sprachstörung bewirkt. Nun ist der Status der Ordnungsschwelle
in Hinsicht auf Sprachentwicklung und Sprachverarbeitung aber in vieler
Hinsicht unklar. Noch nicht endgültig beantwortet ist die Frage, ob
die Ordnungsschwelle eine interne Sprachsignalsegmentierung auf der untersten
Ebene mißt. Diese Frage ist aber grundlegend für die Weiterentwicklung
diagnostischer und therapeutischer Verfahren (vgl. Kegel 1988).
Zunächst kann festgehalten werden:
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Mit der Bestimmung des Ordnungsschwellenwertes wird eine von mehreren Ebenen
des komplexen Zeitverarbeitungssystems gemessen. Diese Messung greift nicht
direkt auf Aspekte der Sprachverarbeitung zu.
-
Ereignisse in einem Zeitabstand unterhalb des Ordnungsschwellenwertes können
zwar noch als gesondert wahrgenommen werden, ihre zeitliche Abfolge kann
jedoch meist nicht mehr bestimmt werden.
-
Deutlich erhöhte Ordnungsschwellen gehen gemeinhin mit Störungen
der Sprachverarbeitung einher. Das zeigen Untersuchungen von sprachauffälligen
Kinder und Aphasikern.
-
Die bisher erkannten Zusammenhänge zwischen Ordnungsschwelle und Sprachverarbeitung
sind korrelativer Natur. Eine Klärung der Kausalverhältnisse
steht aus.
-
Bisherige Ergebnisse lassen es plausibel erscheinen, daß die Ordungsschwelle
bis zum Alter von 8 bis 10 Jahren einer Entwicklung unterliegt. Das spräche
für die Möglichkeit, die Ordnungsschwelle zu trainieren.
-
Ob allerdings ein direktes Training der Ordnungsschwelle über auditive
Inter-Stimulus-Intervalle zu nachhaltigen Veränderungen des Zeitverarbeitungssystems
führt, scheint zur Zeit noch fragwürdig.
Die Heranziehung des Ordnungsschwellenwertes als diagnostische Größe
ist in vielen Fällen sicher sinnvoll. Eine ganz andere Frage stellt
die Entscheidung für ein therapeutisches Verfahren dar. Die Zeitverarbeitungsebenen
sind nach unseren Ergebnissen keine isolierten, sondern interagierende
Systeme. Nach unseren bisherigen Erfahrungen zieht ein erfolgreicher therapeutischer
Zugriff auf eine Ebene auch Verbesserungen auf den anderen Ebenen nach
sich. Die folgende Tabelle gibt einen kurzen Überblick zu den Zeitverarbeitungsebenen
und den zugeordneten Sprachverarbeitungsebenen.
Zeitverarbeitung |
Takt-Rate |
Sprachverarbeitung |
Ordnungsebene |
20 - 40 msec |
Merkmale von Lauten |
Strukturierungsebene |
einige 100 msec |
Silben und Wörter |
Integrationsebene |
etwa 3 sec |
Teilsätze und Sätze |
Bevor die Verfahren zum direkten Training der Ordnungsschwelle, die
für Patienten ja durchaus anstrengend sind, weiter ausgebaut werden,
sollte der Zusammenhang von Ordnungsschwelle und Sprachverarbeitung gründlicher
erforscht werden. Es kann nicht mit Selbstverständlichkeit angenommen
werden, daß die Ordnungsschwelle - etwa gedacht als eine Art Oszillator
oder Metronom - das Sprachsignal in eine Zeitfolge von Segmenten zerteilt.
Diesem Gedanken folgend würde z. B. ein Ordnungsschwellenwert von
30 msec das Sprachsignal in Segmente dieser Dauer zerlegen. Sprachliche
Ereignisse müßten in verschiedenen Segmenten auftreten, damit
sie als einander zeitlich folgend verarbeitet werden könnten. Zur
Klärung dieser Frage bedarf es eines Verfahrens, daß ausgehend
vom Konzept der Ordnungsschwelle direkt auf die Sprachverarbeitung zugreift.
2. Erläuterung
des bisherigen Invertierungsverfahrens
Das Signalinvertierungsverfahren wurde von Kegel entwickelt und von
Mitarbeitern des Faches experimentell geprüft (vgl. u. a. Kegel 1996,
Steffen & Werani 1994). Das Verfahren geht von den folgenden, bis dahin
keineswegs geklärten Voraussetzungen aus:
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Die Ordnungsschwelle repräsentiert einen automatisierten Basisprozeß
der Sprachverarbeitung, der weder von Eigenschaften des Sprachsignals noch
von willkürlichen Einwirkungen des Sprecher/Hörers abhängig
ist.
-
Das Zeitverarbeitungssystem auf der Ebene der Ordnungsschwelle zerlegt
das Sprachsignal in eine Folge von Segmenten von der Dauer des individuellen
Ordnungschwellenwertes.
-
Die menschliche Zeitverarbeitung auf dieser Ebene stellt sich als eine
Vergröberung der physikalischen Zeitverhältnisse dar.
-
Unterhalb des Ordnungsschwellenwertes können bis hin zur Fusionsschwelle
(1 - 2 msec) Aspekte des Sprachsignals zwar isoliert, jedoch nicht in ihrer
zeitlichen Abfolge bestimmt werden. Mit anderen Worten: Für die menschliche
Sprachverarbeitung erscheinen unterscheidbare Ereignisse unterhalb des
Ordnungsschwellenwertes als gleichzeitig.
-
Die unterste Ebene zur Verarbeitung der Zeitfolge sind die durch den Ordnungsschwellenwert
festgelegten Signalsegmente. Nur Ereignisse, die in einander folgenden
Segmenten auftreten, können als einander zeitlich folgend verarbeitet
werden.
Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich nun der sehr einfache Grundgedanke
des Verfahrens zur Signalinvertierung und des hierfür geschriebenen
Programms:
-
Das Programm arbeitet mit natürlichen digitalisierten Sprachsignalen.
Ein solches Eingangssignal wird in Segmente von definierter, aber dann
für jedes Segment identischer Dauer zerlegt.
-
Jedes Segment wird invertiert, also bei der akustischen Darbietung des
so manipulierten Ausgangssignals "rückwärts" abgespielt. - Die
Segmentinvertierung zerstört die im Eingangssignal gegebene Zeitfolge
der Ereignisse unterhalb der Segmentdauer. Die Ereignisse selbst bleiben
aber grundsätzlich erhalten. Geprüft wird hiermit die Annahme
der "Gleichzeitigkeit" von Ereignissen unterhalb des Ordnungsschwellenwertes.
-
Die Segmentfolge im Ausgangssignal entspricht der Segmentfolge im Eingangssignal.
- Die Zeitinformation oberhalb der Segmentdauer bleiben erhalten. Geprüft
wird hiermit die Voraussetzung der "Zeitfolge" oberhalb des Ordnungsschwellenwertes.
-
Treffen die beiden hier geprüften Voraussetzungen zu, dürften
bei einer angemessenen, also am Ordungsschwellenwert orientierten Segmentdauer
keine gewichtigen Differenzen zwischen der Wahrnehmung des Eingangs- und
des Ausgangssignals auftreten.
Das Verfahren führt zu dem in der folgenden Abbildung gezeigten Ergebnis.
Das Oszillogramm stellt das Eingangs- und das Ausgangssignal der ersten
100 msec der Wortes KAMM dar. Gewählt wurde hier eine Segmentdauer
von 20 msec. Für das Eingangssignal zeigen Segment 1 und 2 den Plosiv,
Segment 3 die Einschwingphase vom Plosiv zum Vokal und Segment 4 und 5
die ersten klaren Vokalschwingungen. Gut erkennbar ist hier, daß
sich das Ausgangssignal vom Eingangssignal deutlich unterscheidet.
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